John Irving: Bis ich dich finde

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Der Romancier John Irving legt uns mit „Bis ich dich finde“ einen opulenten 1140 Seiten (Taschenbuchausgabe!) starken Entwicklungsroman vor, beginnend in den 60ern mit dem vierten Lebensjahr von Jack Burns, dem tragischen Anti-Helden dieser Geschichte. Wie auch in anderen Irving-Büchern dominieren starke Frauen, kauzige Gestalten, sexuelle Absonderlichkeiten und Ringerwettkämpfe die Handlung. Nur die Bären kommen nicht vor.

„Laut seiner Mutter war Jack Burns bereits ein Schauspieler, bevor er Schauspieler wurde, doch die lebhaftesten Erinnerungen an seine Kindheit waren die an jene Augenblicke, in denen er den Drang verspürte, sich an der Hand seiner Mutter festzuhalten. Das war die Augenblicke, in denen er nicht spielte.“

„Bis ich Dich finde” erzählt die Geschichte des späteren Schauspielers Jack Burns von seinem 4. Lebensjahr an. Sein Vater – ein talentierter Organist William Burns – hat Alice, Jacks Mutter, ziemlich schnell wieder verlassen. Alice, Tätowiererin von Beruf, nimmt auf ihre Art Rache: „Behalte mich oder verliere Jack“, ist ihre Weisung an William, der jedoch beides nicht möchte. Und so begibt sich Alice mit dem vier Jahre alten Jack auf die Reise von Kanada nach Nordeuropa – auf den Spuren des Vaters, um ihn an seine Verantwortung Jack gegenüber zu erinnern. Und zwischen Hotels, Orgeln, Tätowierstudios und Rotlichtvierteln treibt Alice ihr falsches Spiel mit Jack und William.

Zurück in Kanada wird Jack auf eine ehemalige Mädchenschule geschickt, wo er gleich am ersten Schultag auf Emma, eine schon ältere, übergewichtige und äußerst resolute Schülerin, trifft. Emma wird – bis zu ihrem Tod – Jacks engste Vertraute, Freundin und Beschützerin vor geilen, älteren Frauen. In der Schule entdeckt Jack auch seine Liebe zur Schauspielerei, Frauenkleidung und zum Ringkampf. Nach Beendigung der Schulausbildung geht Jack zusammen mit Emma nach Hollywood. Jacks Karriere als Schauspieler gipfelt mit dem Erhalt des Oscars, den er für die Verfilmung eines von Emma verfassten Drehbuchs erhält.

Als Alice an Krebs stirbt sieht sich Jack immer wieder mit seiner Kindheit konfrontiert, nicht zuletzt durch die jahrelang andauernden Therapiesitzungen bei Dr. Gracia, die wohl einzige ältere Frau in Jacks Leben, mit der er keine Affäre hat. Jack begibt sich wieder auf Reisen nach Nordeuropa, nicht um seinen Vater zu suchen sondern um dieses Mal seine eigene Kindheit zu rekonstruieren. Nach und nach erfährt Jack von verschiedenen Leuten, wie die Sachverhalte damals tatsächlich waren – und macht sich schlussendlich auf die Suche nach seinem – mittlerweile verrückten – Vater.

„Bis ich dich finde“ ist wie ein Besuch eines Gruselkabinetts voll mit kaputten Existenzen: William, ein begnadeter Musiker, ist zugleich zutiefst religiös, zugepflastert mit Tattoos und verbringt seinen Lebensabend in einer Züricher Irrenanstalt. Alice ist eine selbstbewusste und eigenständige Tätowiererin, die Williams Zurückweisung nie überwindet und später – bis zu ihrem Tod – eine lesbische Beziehung zur magersüchtigen Mrs. Oastler hat. Die beziehungsunfähige Emma, Tochter von Mrs. Oastler, hingegen kämpft dagegen ständig mit ihrem Gewicht, hält im Kino Jacks Penis und stirbt überraschend an einer Herzkrankheit. Miss Wurtz, Jacks fortwährend in Tränen ausbrechende Lehrerin, ist Jacks treue Freundin und ehemalige Geliebte seines Vaters. Mrs. Machado, eine Portugiesin Mitte vierzig, doppelt so schwer wie Jack und Hausmädchen bei Mrs. Oastler, ist nicht nur Jacks Sparringspartnerin sondern vergeht sich auch regelmäßig an den Teenager.

Dass sich mit diesem Umfeld in dem Jack aufwächst, nichts Gescheites entwickeln kann, ist eigentlich klar. Trotzdem ist es unleidlich, dem Anti-Helden dabei zuschauen zu müssen, wie er – als erwachsender Mann – kopfüber in die nächste und übernächste Falle – nicht stolpert sondern – springt. Es wäre genial gewesen, hätte Irving seine erzählerischen Qualitäten, die er besonders im ersten Viertel des Buches zur Geltung bringt, bis zum Ende aufrechterhalten. So entsteht der Eindruck, das Buch wäre mit einigen hundert Seiten weniger besser gewesen. Oder wie Mathias Altenburg in „Die Zeit“ vom 20. März 06 es überspitzt formulierte: „Hat da etwa jemand direkt ins Diktaphon gequatscht, ohne hinterher den Wortbrei wenigstens noch einmal durchzulesen?“.