Sten Nadolny: Ein Gott der Frechheit

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Was haben ein Paketversand, französische Seidentücher, eine Kreditversicherung und der TV-Schocker Phettberg gemeinsam? Sie sind nach dem griechischen Gott der Diebe, Kaufleute und der geraubten Küsse benannt. Somit ist kaum ein anderer Gott der Antike so omnipräsent wie Hermes. Sten Nadolny hat 1994 mit „Ein Gott der Frechheit“ dem enfant terrible des Olymp einen Roman gewidmet, der in der Gegenwart spielt. Hermes wird nach 2000-jähriger Gefangenschaft in einer Felswand endlich befreit und kehrt in eine götterlose Welt zurück. Er begegnet der Ostdeutschen Helga Herdhitze, in der er sich prompt verliebt. Doch Helga ist das menschliche Echo von Hellas, Tochter von Hephäst – Gott des Metalls und neurotischer Beherrscher der Erde.

Hermes und Hephäst

Mit den beiden Protagonisten Hermes und Hephäst prallen zwei Charaktere aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein können. Der eine ist freiheitsliebend, der andere ein Kontrollfreak. Der eine liebt die Menschen, dem anderen sind sie egal. Hephäst möchte die Welt zerstören, um endlich selbst sterben zu können, Hermes dagegen hat nach seiner 2000-jährigen Gefangenschaft nur den einen Wunsch: das Leben und die Liebe zu genießen und die Welt ein bisschen zu ärgern. Doch vorerst muss Hermes lernen, wie die moderne Welt funktioniert und staunend bereist er Europa und Amerika. Durch seine Gabe, in die Köpfe andere Menschen über deren Ohren zu schlüpfen, kann Hermes schnell alles Notwendige erfahren.

Die Götter haben sich seit der Antike verändert: Zeus ist golfspielender Pensionist, Athene ein männlicher Wissenschafter, Apollon ein alternder Zyniker. Nur Hephäst hat als tyrannischer Beherrscher der Welt Karriere gemacht. Mit seinem Leitsatz „Multiplizieren“ statt „Addieren“ steht er für die industrielle Vervielfältigung und technische Errungenschaften.

Der ist nun allerdings ein extrem unglücklicher und zum Schaden der Welt dominierender Gott geworden, der alle möglichen Beschleunigungs- und Kontrollverfahren beherrscht und trotzdem kein guter Lenker der Welt ist. Es funktioniert alles, aber die Menschen sind nicht glücklich damit. Wenn ich mir so einen Gott vorstelle, der die göttliche und menschliche Welt beherrscht, dann muß er ja doch dafür sorgen, daß Glück möglich ist, und das ist ein bißchen schwierig geworden bei den Lügen, die sein System treiben, inklusive Kriege und Waffen und Kapitalinteresse – es sind ja Konzerne, die er da unter sich hat. Es beschäftigt mich sehr, das Thema Technik, vor allen Dingen auch die Skrupel der Techniker, der Erfinder, Atomwissenschaftler, Techniker, Gentechnologen, die die ersten sind, die warnen und sagen: „Vorsicht, das ist vielleicht schrecklich, was wir da erfunden haben, wir können das machen, aber sollten wir das machen?“ Sie werden meist ziemlich schnell hinweggefegt, weil das, was gemacht werden kann, auch gemacht wird, angeblich immer zum Nutzen der Menschheit, manchmal aber auch tatsächlich zum Nutzen der Menschheit. Dieses Unglück des Technikers ist mir schon ein Thema. (Gisela Holfter im Gespräch mit Sten Nadolny)

Hephäst hat genug von seiner Unsterblichkeit und strebt mit seiner Herrschaft die Apokalypse an. Denn sterben kann er nur, wenn sein Name für immer in den Köpfen der Menschen ausgelöscht ist. Keine Menschen – keine Götter mehr. Und somit fördert der Gott des Feuers alles, was den Menschen schadet: Hass, Krieg und innerliche Gleichgültigkeit.

„Es hatte schon vor Jahrzehnten begonnen: alle hatten ein schlechtes Gewissen, aber keiner eine Ahnung, wie man es schaffte, zu einem guten zu kommen. Der Haßpegel war noch mehr angestiegen. Es gab das Duell wieder, allerdings ohne Chancengleichheit und Ritual – Männer liefen mit Degen herum und stellten, etwa bei Parkplatzstreitigkeiten, ihr inneres Gleichgewicht durch Kämpfe auf Leben und Tod wieder her. In den meisten Ländern hatten die Regierungen, um die Aggressiven unter ihren Wählern nicht zu verlieren, den Besitz von Schußwaffen wieder zugelassen. Weiter gab es inzwischen eine Selbstmordsekte, die sich „Kadaverbewegung“ nannte. Diese Leute waren nicht etwa verzweifelt, sie waren schlicht auf das Leben nicht mehr neugierig. Sie gaben die Menschen verloren: die anderen sofort und sich selbst nach einer wenig längeren Frist. Sie wollten sich dann ein letztes Verdienst nur noch dadurch erwerben, daß sie die Erde von ihrer Existenz befreiten. Der Untergang der Neugier, für den Hephäst gesorgt hatte, indem er sie als Belästigung, Einmischung und Zumutung diffamierte, riß vieles mit sich. Es gab keinen Geist mehr, nur noch eine Art begrifflicher Versicherungswirtschaft. Die Sprachen der Leidenschaft oder auch der Zärtlichkeit lernte man wie ein Computerprogramm, wenn man in der Telekommunikation oder Telephonerotik arbeiten wollte. Im Osten und Süden war es nicht viel lustiger. Ein riesenhafter und mächtiger Staat mit einer wahren Haßkultur wat entstanden, geführt von einem „Unfaßbar Unfehlbaren“, der den Gebrauch des U verboten hatte – nur in seinem Namen, dem des Herrn dürfe er vorkommen. Weil es aber so schwer war, das U zu vermeiden – besonders Kinder entpuppten sich als unbekehrbare Sünder -, wuchs die Zahl der Hinrichtungen.“

Zuerst versucht Hephäst Hermes für sein „lemnisches“ System zu begeistern und macht aus Hermes einen Zeitgeist. Doch Hermes ist unglücklich mit seiner neuen Rolle, die ihm unecht und aufgesetzt erscheint. Er kündigt, taucht unter und begreift, dass nur er – als Gott der Frechheit – dem Weltuntergang entgegenwirken kann. Gemeinsam mit Helle schmiedet er einen Komplott, der natürlich in die Hose geht. Die Geschichte des sorglosen und lebenslustigen Hermes ist eine zeitkritische Satire, leicht geschrieben und unterhaltsam zu lesen.

Nadolny spinnt auf fantasievolle Weise die Sagen und Mythen der Antike weiter und stellt sie damit in ein aktuelles Licht. Dass er sich dabei nicht immer an den Hard Facts der Überlieferungen hält, macht die Geschichte originell und kurzweilig.