Graham Moore: The Sherlockian

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The Sherlockian - Sherlock Holmes

Ein Sherlockian ist jemand, der ein absoluter Sherlock-Nerd ist. Im Unterschied zu einem Holmesian, den man angeblich nur auf der britischen Insel findet, ist der Sherlockian in Amerika angesiedelt*. Wie auch immer: Für Fans von Sherlock Holmes-Geschichten ist dieses Buch ein MUST-READ – für Liebhaber klassischer Detektivgeschichten ebenfalls.

„Arthur Conan Doyle curled his brow tightly and thought only of murder. „I’m going to kill him“.

Mit diesen prickelnden Sätzen beginnt dieses Buch. Es ist der 9. August 1893 und der Erfinder des berühmtesten Detektivs aller Zeiten, Arthur Conan Doyle, hat die Nase gestrichen voll von seinem Helden. Ein Held, von dem seine Leser glauben, er sei real, hätte sein Detektivbüro in der Bakerstreet und Doyle wäre lediglich sein Agent. Er beschließt, Holmes (und bekanntermaßen auch dessen Erzfeind Moriarty) die Klippen der Reichenbachfälle hinunterstürzen zu lassen, damit er endlich seine Ruhe hat. How shocking!

Ein paar Seiten weiter, es ist der 5. Jänner 2010: In New York wird der alljährliche Kongress der „Baker Street Irregulars“ abgehalten. Dieser illustre Verein, der sich äußerlich durch Tabakpfeifen und Deerstalker-Mützen auszeichnet, ist eine international angesehene Organisation, die sich intensiv dem Studium der Romanfigur des Sherlock Holmes‘ widmet. Für Harold White, einem jungen, zurückhaltenden Mann, ist es der wichtigste Tag in seinem Leben. Nach langen Vorbereitungen wird er endlich als Mitglied des erlauchten Kreises aufgenommen. Doch kaum ist der Applaus ihm zu Ehren verklungen, gibt es auch schon die erste Leiche.

Arthur Conan Doyle: Sherlock Holmes muss sterben

Während Doyle Sherlock Holmes im Licht einer einzigen Lampe ermordet und dafür von der Gesellschaft fast geächtet wird, schlüpft Harold in die Rolle des berühmten Detektivs. In einem Hotelzimmer wird ein Sherlockian mit einem Schnürsenkel erdrosselt aufgefunden. Dieser hatte zuvor verlautbart, dass er nach jahrelanger Suche ein verschollenes und heiß begehrtes Tagebuch von Arthur Doyle gefunden hat. Man vermutet, dass es genau dieses Tagebuch ist, das erklärt, warum Doyle seinen Detektiv sterben und ihn Jahre später wieder auferstehen ließ. Die logische Schlussfolgerung, dass der Sherlockian aufgrund dieses Tagebuch sterben musste, liegt auf der Hand. Harold, als einer der ersten, der am Tatort ist, entdeckt beim Untersuchen der Leiche seine Leidenschaft zum Beobachten und Analysieren und beginnt zu ermitteln.

Watson ist eine Frau

Harold tritt also in die Fußstapfen seines Vorbildes. Fehlt ja nur noch ein Partner für Harold! In diesem Fall heißt er nicht Watson und ist auch kein Mann. Eine junge Frau, Sarah, die sich als Journalistin ausgibt und sich illegal Zugang zum Kongress verschafft, mischt aktiv bei den Ermittlungen mit. Zusammen mit Harold fliegt sie nach London. Dort scheint es, ist der Schlüssel zu Mord und Tagebuch zu finden. Harold beginnt wie Sherlock zu denken und zu handeln, um das fehlende Tagebuch zu finden und den Mord an seinem Kollegen aufzuklären.

Ein paar Kapitel weiter wird Arthur Doyle am 19. Oktober 1900 von Scotland Yard gebeten, in einem ungeklärten Mordfall an einer jungen Frau zu ermitteln. Auch ihm stellt der Autor einen „Watson“ zur Seite. Und dieser ist nicht weniger berühmt als er selbst: Arthur wird von niemand anderem als von Bram Stroker, einem damals aufstrebenden Schriftsteller, begleitet. Doch Bram ist nicht begeistert auf eine Nebenrolle reduziert zu werden:

„Very well, if you’re to act like that, the yes, let’s speak plainly,“ said Bram. „Watson is a cheap, efficient litte sod of a literary device. Holmes doesn’t need him to solve the crimes any more than he needs a ten-stone ankle weight. The audience, Arthur. The audience needs Watson as an intermediary, so that Holmes’s thoughts might be forever kept just out of reach. If you told the stories from Holmes’s perspective, everyone would know what the bleeding genius was thinking the whole time. They’d have their culprit fingered on page one. But if you tell the stories from Watson’s perspective, the reader is permitted to chase in the darkness with the bumbling oaf. Watson is a comic flourish. He’s a gag. A good one, all right, I’ll give you that, but I hardly see how you’ll be needing one of him.“

Erkenntnisse wie diese und das kapitelweise Wechseln zwischen den Zeitebenen machen dieses Buch von Anfang an zu einem echten Lesespaß. Und natürlich tragen dazu auch seine Protagonisten einiges bei: Harold, der zu Beginn etwas lächerlich wirkt (dafür ist nicht nur sein Outfit schuld), wird im Fortgang seiner Ermittlungen ernsthafter und selbstbewusster. Doyle, der einem Serienkiller auf der Spur ist, agiert ebenfalls wie ein echter Detektiv und wird wie Harold immer mehr in kriminellen Mysterien verwickelt. Beide Charaktere verbindet etwas Fundamentales: Das tiefe Bedürfnis, Wahrheit ans Licht zu bringen – und das mit logischem Denken und Beharrlichkeit.

„The Sherlockian“ ist eine gelungene und originelle Detektivgeschichte mit einer großen Dosis an Sherlock-Zitaten und Andeutungen zu seinen Abenteuern. Sie vermischt geschickt fiktionales mit historischen Fakten. Man muss kein Sherlockian sein, um seine Freude an dieser Geschichte zu haben. „The Sherlockian“ ist der erste Roman des Amerikaners Graham Moore. Der Roman erschien 2010 und wurde in 16 Ländern publiziert und in 13 Sprachen (soweit ich herausfinden konnte, nicht in Deutsch) übersetzt.