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Tom Finnek: Gegen alle Zeit

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Der junge Henry liebt die Schauspielerei. Durch seine Freundin Sarah bekommt er endlich eine bezahlte Rolle als Captain Macheath in der „Bettleroper“. Doch als die Vorhänge bei der Premiere in einem Londoner Kellertheater fallen, ist es mit Henrys Glück vorbei. Er erwischt Sarah, die auch im Stück seine Geliebte Polly mimt, in flagranti mit dem Bühnen-Vater Peachum. Bei der anschließenden Premieren-Feier schluckt Henry seinen Kummer erst mal mit viel Gin hinunter. Doch an das, was dann passiert, kann sich Henry nur noch lückenhaft erinnern. Eine Eisenstange ist da im Spiel. Und viel Eifersucht und Blut. Als Henry am nächsten Morgen aufwacht – völlig verkatert und orientierungslos – findet er sich im stinkenden Keller von „Mother Blake’s Gin Shop“ wieder. Als er aus dem Keller auf die Straße tritt, traut er seinen Augen nicht und glaubt zunächst Opfer von „Versteckter Kamera“ zu sein. Er sieht eine mit Kopfstein gepflasterte Straße, gesäumt von windschiefen Häuser und Menschen mit Lockenperücken, strammen Miedern und Kniebundhosen. Ein junger Mann mit dunkelblauer Hautfarbe, der sich als „Blueskin“ vorstellt, fordert ihn auf ihm zum Newgate-Gefägnis zu folgen, um endlich Jack Sheppard zu befreien. Henrys Hoffnungen, dass er gerade einem blöden Scherz aufsitzt, schwinden. Seine Gegenwart ist längst nicht mehr die der Wolkenkratzer und Smartphones, sondern die des Jahres 1724. Das Jahr, in dem Londons berühmtester Dieb Jack Sheppard gehängt wird und der Schriftsteller John Gay zusammen mit dem Musiker Johann Christoph Pepusch beginnt, an „The Beggar’s Opera“ zu arbeiten.

„Ähm, sag mal … nur aus Interesse“, sagte Herny und wich einer schwarzgefleckten Sau aus, die mitten auf dem Weg im Dreck wühlte. „Welchen Tag haben wir heute?“
„Na, du stellst Fragen. Heute ist Montag, der letzte Tag im August, wenn ich mich nicht irre.“
„Und welches Jahr?“
„Fragst du das im Ernst?“
„Jetzt sag schon!“
„1724“, antwortete Blueskin und musterte ihn kopfschüttelnd.
„Natürlich!“ Henry konnte sich nicht länger zusammenreißen, der Lachkrampf überkam ihn, und er konnte sich nicht dagegen wehren. „1724, was sonst? Wie dumm von mir!“ Er drehte sich um die eigene Achse, breitete die Arme aus und rief: „Ihr könnt rauskommen, Leute! Ich hab’s geschnallt.“
„Was is’n mit dem los?“, frage Poll, die vor einem steinernen Tor in der Stadtmauer stehen geblieben war und auf sie gewartet hatte. „Verrückt geworden, oder was?“
Blueskin zuckte mit den Schultern und knurrte: „Mutters Wacholderfluch!“

Die „Bettleroper“, oder eigentlich „Des Bettlers Oper“, wie Berthold Brecht einmal richtigstellte, ist das Thema, um das sich der Roman „Gegen alle Zeit“ dreht. Henry, durch die Zeit zurückgeworfen, lernt im Laufe der Geschichte nicht nur das London im Jahre 1724 kennen, sondern auch sämtliche Darsteller der Oper: Londons berüchtigte Verbrecher Jack Sheppard und Josef Blake „Blueskin“, die Hure Edgeworth Bess und den skrupellosen Diebesfänger Jonathan Wild. Und weil Henry in seiner Zeitreise gefangen ist, verwebt sich sein Schicksal immer mehr mit der Handlung der Oper. Gleich von Anfang an wird Henry in das Geschehen rund um Jack Sheppard hineingezogen. Ehe er darüber nachdenken kann, was ihn in das frühe 18. Jahrhundert gebracht hat und warum, ist er auch schon Teil des dunklen, schmutzigen London der hinterlistigen Gauner, berechnenden Huren und unbarmherzigen Diebesfängern.

Tom Finnek zeichnet in „Gegen alle Zeit“ kein verklärtes, sondern ziemlich realistisches Bild der Weltstadt. Sein Roman spielt in den heruntergekommenen Vierteln Londons, wo Prostitution, Schnaps und Gewalt dominieren. Finnek gelingt es, eine intensive Atmosphäre zu schaffen und so den Lesern völlig in seinen Bann zu ziehen. Nebenbei vermittelt Finnek auch ein paar geschichtliche Fakten über die Stadt und ihre Bauten, wie z.B. dem berüchtigten Bethlem Royal Hospital:

Zwölf Monate dauerte üblicherweise die Behandlung im Bethlem Royal Hospital, egal ob man bei der Einlieferung überhaupt verrückt oder bei der Entlassung genesen war. Ein Jahr lang wurden die Irren, Übergeschnappten und Trinker weggeschlossen, mit eiskaltem Wasser, Aderlässen und Stockhieben „zur Vernunft gebracht“ oder, wenn die Behandlung keine Wirkung erzielte, in Ketten gelegt. Anschließend wurden sie, bekloppt wie sie waren, wieder auf die Straße gesetzt. Bis sie erneut auffällig oder widerspenstig wurden.
Was Blueskin bei seinem Besuch in Bedlam vor allem entsetzt hatte, waren der Lärm, der Gestank und die Dunkelheit gewesen, die in dem Irrenhaus wie selbstverständlich hingenommen wurden. Viele Verrückte schrien wie am Spieß, und niemand unternahm etwas dagegen; um die Sauberkeit des Hauses und der Eingesperrten schien sich ebenfalls keiner zu kümmern, deshalb stank es überall nach Schweiß und Scheiße; und weil die Fenster so winzig, obendrein vergittert und in großer Höhe über dem Boden angebracht waren, herrschte in Bedlam am helllichten Tag Dämmerung und zu allen anderen Zeiten finstere Nacht. Denn Kerzenlicht war in den Zellen und auf den Gängen strengstens verboten.

Henry muss sich also nicht nur in einer Gesellschaft zurechtfinden, die den Aderlass gut findet und wo die Folter an der Tagesordnung steht. Plötzlich hat er es auch mit Menschen zu tun, bei denen man nie genau weiß, auf welcher Seite sie wirklich stehen. Steckt Jack Sheppard mit Jonathan Wild unter einer Decke oder ist Blueskin der Verräter? Welche Rolle spielen Bess und ihr toter Ex-Geliebter? Dreht sich alles um den organisierten Diebstahl oder geht es um ein politisches Komplott? Doch Henry hat bei seinen Nachforschungen ein As im Ärmel: Mehr als einmal kann er sich und seine Freunde durch sein schauspielerisches Talent aus lebensgefährlichen Situationen retten. Zu guter Letzt (und um das Lese-Erlebnis zu vervollständigen) bekommt der Roman – neben den Krimi-Tendenzen – auch noch eine romantische Note: Henry verliebt sich in die kauzige Hure Edgeworth Bess.

„Gegen alle Zeit“ ist Fantasy, Krimi, historischer Roman und Milieustudie – alles in einem. Gekonnt zieht der Autor sämtliche Register, um atemraubendes Lese-Vergnügen zu erzeugen. Mit ein bisschen Romantik und Situationswitz schafft er zudem einen notwendigen Kontrapunkt zur stinkenden Stadt und ihrer verkommenen Gesellschaft. Den Grausamkeiten des 18. Jahrhundert (Armut, Seuchen, Gewalt) wird somit die Schärfe genommen, ohne aber dabei die Spannung zu schmälern. Ein wirklich sehr gelungenes Buch, das man wahrscheinlich mehr als einmal lesen wird!

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