Oliver Plaschka: Die Magier von Montparnasse

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Im Jahr 1926 ist Paris die Stadt der Künstler, der Bohemians, der Cafés und Bars und auch der „grünen Fee“. Am Boulevard de Montparnasse, Herz des intellektuellen und künstlerischen Lebens von Paris, liegt „Le Jardin“, ein heruntergekommenes Hotel. Der ruppige Alphonse ist zuständig für die Bar, seine frustrierte Frau Esmée führt das Kommando in der Küche. Zwischen ihnen wuselt die junge Kellnerin Justine hin und her.

Eine der wenigen Gäste des Hotels ist der Zauberkünstler Ravi mit seiner hübschen Assistentin Blanche. Das Paar wurde von Philbert, Besitzer des „Bobino“, für eine Woche in seinem Etablissement engagiert. Bis zur Abschlussvorstellung am Sonntag verlaufen ihre Auftritte reibungslos und erfolgreich. Aus unerklärlichen Gründen versagt am letzten Tag aber ein technisches Detail während eines Kunststücks. Um sich und Blanche aus einem Sarg voller Sand zu retten, bleibt Ravi nichts anderes übrig als echte Magie einzusetzen.

Damit bringt Ravi zwar seinen Auftritt mit viel Applaus zu Ende, zugleich verstößt er damit auch gegen die wichtigste Grundregel der Magierzunft, der „Société“: Verwende keine echte Magie. Ravis Handeln bleibt nicht unbemerkt. Blanche und Ravi sind sich durchaus bewusst, dass sie mit dem Einsetzen echter Magie ihre Karriere und auch ihr bisheriges Leben gefährden, denn solches Fehlverhalten wird von der Vereinigung der Magier – der Société – geahndet. Und dennoch oder gerade deshalb entschließt sich Blanche gleich mit Magie à la Schneewittchen weiter zu machen:

„Ravi?“ Sie klang auf einmal sehr ernst. Ich spürte, dass sie etwas im Schilde führte. Als sie gefunden hatte, was sie suchte, und sich wieder umdrehte, hielt sie einen herbstfarbenen Apfel in der Hand. […]

„Du erinnerst dich an unser Versprechen?“, fragte sie.

„Natürlich. Wie könnte ich es jemals vergessen?“

„Der Zeitpunkt ist gekommen. Ich halte meinen Teil.“ Sie biss in den Apfel, kaute und schluckte, nahm aber keinen Moment die Augen von mir. Dann reichte sie ihn an mich weiter.

„Dies will ich dir geben“, sagte sie. „Nimmst du es an?“

„Das ist große Magie, Blanche“, zögerte ich. „Vielleicht die stärkste Magie, die es gibt.“

„Es ist mein Wille.“

„Man wird uns das auf gar keinen Fall durchgehen lassen.“

„Hab Vertrauen, Ravi! Was gesehen ist, ist geschehen – das hier macht alles wett.“

[…] Ich vergaß meine Zweifel. Dies war der Augenblick, auf den ich so lange gewartet hatte. Ich führte den Apfel zum Mund und biss hinein. Er schmeckte wie ein gewöhnlicher Apfel.

Doch gleichzeitig konnte ich sehen, wie ihre Lider schwer wurden – der Zauber begann schon zu wirken.

Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus.

Blanche sank in meine Arme.

„Ravi…“

Ich hob sie empor und blickte sie an. Sie hatte wieder dieses Lächeln, wie ein Kätzchen, das in die Sonne blinzelt und sich auf dem Boden ausstreckt. Ihr Haar hatte sich in meinen Armen verfangen. Ich erhaschte einen Blick auf uns im Spiegel; in meinem halbbekleideten Zustand sah ich aus wie ein wahnsinniger Inkapriester.

Sie hatte unser beider Schicksal in meine Hände gelegt. Nun lag es an mir.

Ich werde schlafen.

Bring mich zurück ins Jardin, Ravi.

Morgen wecke mich mit einem Kuss. Hörst du?

Wenn ich erwache, fängt ein neues Leben für uns an – und was für ein Leben das sein wird!

Mit diesen Worten fiel sie in den Schlaf.

Am nächsten Tag jedoch erwacht Blanche nicht aus ihrem Schlaf und wie befürchtet trudeln auch schon die ersten seltsamen Gäste, von denen Ravi weiß, dass sie von der Société geschickt wurden, ein. Der erste Gast ist ein sonderbarer Engländer, Barnaby, ihm folgt die noch eigenartigere und wortkarge Frau Céleste, von der man gleich erkennt, dass sie nichts Gutes verheißt. Zu guter letzt reisen auch noch der blonde Schönling Orlando und sein zwergenhaften Diener an. Ravi sorgt nun sich nicht nur um Blanche und ihren nicht endenwollenden Schlaf sorgen, nun muss er sich auch mit den Agenten der Société befassen und sich geschickt aus der eingefahrenen Situation heraus manövrieren. Dem nicht genug, sitzt ganz Paris wegen Ravi und Blanche in einer „Täglich grüsst das Murmeltier“-Zeitschleife. Im Spiel des Tarnen und Täuschens gewinnt die Rolle der Kellnerin Justine immer mehr an Bedeutung, die sich an diesem Tag und auf den darauffolgenden Tagen in den brotlosen und untalentierten Schriftsteller Gaspard verliebt.

Und täglich grüßt das Murmeltier

Sieben Tage lang währt die Zeitschleife – sieben Tage, an dem sich die wiederholenden Ereignisse zwar ähneln aber nie diesselben sind. Je näher der letzte Tag rückt, desto mehr spitzt sich die Situation zu. Kann Ravi dem Engländer vertrauen, wer hat Orlando erwürgt und wieso ist es eine Kellnerin und ein erfolgloser Schriftsteller, die immer mehr ins Zentrum des Interesses rücken? Kann es gelingen, die Zeitschleife zu unterbrechen und somit den Untergang der Stadt verhindern? Und schließlich hören die Glocken auf zu schlagen, und die Zeit steht still.

Eine aufregende Geschichte, geschickt erzählt: Der Autor widmet jedem Murmeltier-Tag ein Kapitel und lässt die Geschichte von den Protagonisten selbst erzählen. Dabei verstrickt er sich jedoch nicht in zu befürchtenden Wiederholungen der Ereignisse sondern setzt die nächste Ich-Erzählung immer an der vorherigen an. Und da die Charaktere sehr unterschiedlich entworfen sind, gewinnt der Leser dadurch noch mehr Eindruck von der Handlung. Besonders nett fand ich auch die eingewobenen Anspielungen auf Arthur Conan Doyle und Ernest Hemingway. Ebenfalls gefallen hat mir das Spiel mit dem Apfel: Seine in Literatur und Kultur verankerte Symbolik als Frucht der Liebe, des Lebens und der Erkenntnis ist der Dreh- und Angelpunkt dieses durchaus zauber- und fast schon märchenhaften Romans.

Oliver Plaschka, Jahrgang 1975, studierte Anglistik und Ethnologie in Heidelberg und ist Mitverfasser des „Narnia“-Rollenspiels. Für seinen Roman „Fairwater oder Die Spiegel des Herrn Barthomolew“ wurde er mit dem Deutschen Phantastikpreis ausgezeichnet.