Jonathan Safran Foer: Extrem laut und unglaublich nah

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Am Abend vor dem 11. September hat ihm sein Vater noch eine Geschichte über das Verschwinden des sechsten New Yorker Bezirks erzählt. Am nächsten Tag hört Oskar die letzten Nachrichten seines Vaters am Telefonrufbeantworter ab. Oskar ist neun Jahre alt, traurig und verstört darüber, dass sein Vaters beim Terroranschlag auf das World Trade Center ums Leben kam. Oskar ist ein neugierig und etwas naseweis. Oskar ist Erfinder, Schmuckdesigner, Pazifist, Origamist, Sammler, Perkussionist, spricht manchmal französisch und schreibt fortwährend Briefe an Ringo Starr, Jane Goodall und Stephen Hawking. Eine ausgeprägte Seelenverwandschaft und geistige Verbundheit zeichnete die Beziehung zu seinem Vater aus.

Als Oskar eines Tages den Kleiderschrank seines verstorbenen Vaters durchsucht, findet er einen mit „Black“ beschrifteten Umschlag mit einem Schlüssel darin. Oskar hofft, durch den Schlüssel mehr über seinen Vater zu erfahren und macht sich auf die Suche nach dem Schloss, zu dem der Schlüssel passt.

Monatelang streift Oskar durch New York, alle im Telefonbuch verzeichneten „Blacks“ abklappernd, auf der Suche nach Antworten über den unerwarteten Verlust. Er trifft auf die unterschiedlichsten Menschen, die ihm zwar nicht weiter helfen können, aber trotzdem zu einem wichtigen Teil seines Lebens in dieser Zeit werden. Die Suche nach dem Schloss zum Schlüssel hilft Oskar, „meinem Dad noch ein bisschen länger nahe zu sein“ – und hat somit eine Therapie-Funktion um die schrecklichen Ereignisse, seine Trauer und Schuldgefühle zu verarbeiten.

Bei einem Großteil seiner Ausflüge wird Oskar von einem der „Blacks“ begleitet, der zufälligerweise genau einen Stock über ihn wohnt. Abe Black ist ein ehemaliger Kriegsjournalist und Inhaber einer sehr gepflegten Personenkartei. Jeder Mensch, der Abe wichtig genug erschien, wurde mit Namen und nur einem Stichwort auf einer Karte festgehalten:

Er zog Schubladen auf und holte eine Karte nach der anderen heraus.

„Henry Kissinger: Krieg!“

„Ornett Coleman: Musik!“

„Che Guevara: Krieg!“

„Jeff Bezos: Geld!“

„Philip Guston: Kunst!“

„Mahatma Gandhi: Krieg!

„Er war doch Pazifist“, sagte ich.

„Ganz genau: Krieg!“

„Arthur Ashe: Tennis!“

„Tom Cruise: Geld!“

„Elie Wiesel: Krieg!“

„Arnold Schwarzenegger: Krieg!“

„Martha Stewart: Geld!“

„Rem Kolhaas: Architektur!“

„Ariel Sharon: Krieg!“

„Mick Jagger: Geld!“

„Yasir Arafat: Krieg!“

„Susan Sontag: Denken!“

„Wolfgang Puck: Geld!“

„Papst Jonhannes Paul II: Krieg!“

Foer beschränkt sich in seinem Roman aber nicht nur auf die abenteuerliche Odyssee des kleinen Helden. Er verbindet sein Schicksal mit dem Leben seiner Großeltern. Seine Oma nimmt – nach seinem Vater – den zweiten Platz in der Liste der Meistgeliebten ein. Für seine Oma wiederum ist Oskar der Sinn des Lebens: „Ich kann nur hoffen, dass du niemals jemanden mehr liebst, als ich dich liebe.“

Oskars Großvater ist – trotz der dazwischen liegenden Jahrzehnte – immer noch traumatisiert von den Ereignissen in seiner Jugend. Er erlebte als junger Mann die Bombardierung Dresdens, wo er nicht nur seine Familie verlor sondern auch die (schwangere) Liebe seines Lebens. Er verliert seine Sprache und kommuniziert über Bücher, in denen er schreibt, was er sagen möchte. Auf seinen Händen hat er jeweils „Ja“ und „Nein“ tätowiert. Er flüchtet nach New York und trifft auf die Schwester seiner Jugendliebe. Mehr aus Selbstzweck heiraten die beiden – doch da die beiden in der Vergangenheit gefangen sind, kehrt der Großvater nach Deutschland zurück. Kurz nach seiner zweiten Flucht“ bringt die Großmutter ihr gemeinsames Kind auf die Welt – Thomas Schell, der am 11. September dem Terroranschlag zum Opfer fällt.

Die schwierige Beziehung zwischen den Großeltern, die damaligen Ereignisse im Krieg sowie Erklärungen über Angst und Unfähigkeit werden durch Briefe dokumentiert. Briefe, die nie abgeschickt und am Ende begraben werden und von denen nur die Autoren selbst und die Leser wissen. Unglückliche Liebe, Krieg und der immerwährende Unfähigkeit, dem anderen nahe zu sein, stellen die dramatische Komponente des Buches dar.

Parallel zu dieser Tragödie werden Oskars Erlebnisse mit sämtlichen „Blacks“ in New York geschildert. Zwischen den Besuchen, die oft auch komischen Charakter haben, dringt immer wieder Oskars Schmerz und Trauer durch. Der Leser ahnt, dass es der Schlüssel ist, der Oskar wieder zu seiner Familie und auch ein Stückchen näher zu sich selbst bringt.

„Extrem laut und unglaublich nah“ hat für den Leser einiges zu bieten: Interessanterweise versucht Jonathan Safran Foer die Trauerarbeit eines Kindes nachzuvollziehen, gleichzeitig beleuchtet er das bereits gelebte Leben zweier alter Menschen. Zum einen ist das Buch erschreckend, wenn es um Krieg und Terror geht, andererseits offenbart er dem Leser eine außergewöhnliche visuelle Verspieltheit: Der Roman wird durchsetzt mit Seiten, auf denen nur ein Wort oder ein Satz oder nur Zahlen stehen, oder auch gar nichts. Dann gibt es Seiten, auf denen so viele Sätze stehen, dass sie ineinander fließen und unlesbar werden. Ganzseitige scharfe und unscharfe Fotos von einer Knochenhand, von Fenstern, Schildkröten und Astronauten, von Händen, Hinterköpfen und Schwingtüren. Alles hat aber seinen Platz und steht immer im tiefgründigen Kontext der Geschichte.