Am 28. März 2004 kapituliert ein Dosenöffner. Was nicht weiter tragisch wäre, wäre es nicht der einzige Dosenöffner vier greiser Männer der Waffen-SS, die den Endsieg Hitlers in einem Bunker tief unter deutscher Erde abwarten. Nach langem Hin und Her wird das Marschgepäck zusammengestellt und nach mehr als 60 Jahren kehren die vier an die Oberfläche und damit in die Gegenwart zurück. Ganz schön blöd für die alten Nazis, wenn man bedenkt, was sich in der Zwischenzeit so alles getan hat… Man konnte sogar die Bomben hören – jahrelang! Dass Josef Stahl, Otto Böttcher, Fritz von Jagemann und Konrad Hoppe jahrzehntelang in ihrem Bunker unter einem Bombenübungsplatz gewohnt haben, wissen sie nicht. Aber dass es in der letzten Zeit allerdings ruhig geworden ist (seit den regen Aktivitäten örtlicher Bürgerinitiativen, allen voran der Dorfpfarrer, dürfen die Kampfjets nur noch fliegen aber nichts mehr abwerfen) – das ist ihnen schon aufgefallen, aber trotzdem ist der Krieg doch noch nicht aus? Ein kaputter Dosenöffner zwingt die vier Bunker-Insassen nach 60 Jahren an die Oberfläche zu steigen. Und dort bemerken die vier schwer bewaffneten Greise lange nichts von Frieden und Demokratie. Im Gegenteil: Auf ihrem Weg zur Reichshauptstadt Berlin – sie wollen dort dem Führer Bericht erstatten – stoßen sie immer wieder auf Krieg, Tod und die Wochenschau.
„Rechts und links der Straße zeigen etliche Holzkreuze vom erbitterten Kampf um jeden Meter Heimat. Manche sind mit frischen Blumen, andere mit verwelkten Kränzen oder nassen Teddybären geschmückt. Oft hat man Namen und Daten ins Holz geschnitzt: Vor allem junge Männer leisten immer noch tapfer ihren Blutzoll, die meisten kaum 20 Jahre alt. Offenbar ist es üblich, nur die Vornamen der jungen Helden zu ehren, um ihre Familien vor Terror und Rache der Besatzer zu schützen. Aber was uns am meisten entsetzt: Es sind auch junge Frauen darunter! Sollte der Feind über die vielen Jahre des Krieges dermaßen verroht sein, daß er selbst vor Frauen und halben Kindern nicht zurückschreckt? Oder sind wir selbst schon so ausgeblutet, daß der Volkssturm auf junge Mädchen zurückgreifen muß? Was aber bedeutet dann das scheinbar friedliche Leben der Volksgenossen? Es ergibt keinen Sinn. Ächzt das Land womöglich nur teilweise unter Besatzung? Befinden wir uns nach wie vor im Würgegriff der Fronten oder in der kurzen Atempause einer Waffenruhe? Wir werden es bald – müssen es unbedingt wissen.“
Die Männer von der vermeintlichen Wochenschau sind ein Film-Team eines Privatsenders, das eine große Story wittert. Aber auch die Regierung hat Wind von einem noch nicht entdeckten Bunker und den vier Alt-Nazis bekommen. Ein versoffener Kameramann, sein junger Assistent, eine karrieresüchtige Redakteurin und eine Politikerin der 68-er Generation machen Jagd auf Ledermäntel und Maschinenpistolen tragende SS-Männer mit weißen Haaren.
Die geschickt und sehr intelligent gesponnene Geschichte wird aus drei Perspektiven erzählt: Es beginnt Fritz mit einem (weiteren) Brief an die Schwester. Er erzählt vom gebrochenen Dosenöffner und von der erschütternden Absicht, den Bunker zu verlassen. Der zweite Erzähler ist Monse, ein junger, modern denkender Kamera-Assistent, der lieber als DJ arbeiten möchte. Die dritte im Bunde ist Evelyn, die politische Abgesandte vom BKA, eine Expertin für Neonazis. Und wie sich die Geschichte fortlaufend immer weiter verdichtet, so greifen auch die Schicksale der drei immer mehr ineinander.
Satirische Vergangenheitsbewältigung
Hans Waal präsentiert Vergangenheitsbewältigung auf neue, ironische Art: Mit Hilfe der drei Erzähler werden die unterschiedlichen Zugänge zu Vergangenheit und Gegenwart symbolisiert. Viele ihrer Aussagen kommen uns bekannt vor, entweder weil wir sie schon so oft gehört haben oder weil wir sie selber schon oft gesagt oder gedacht haben. Es wäre kein guter Roman, wenn uns der Autor – gerade bei diesem Thema – nicht zum Nach- und Überdenken zwingen würde.
Der Autor hat es geschafft, eine ernsthafte Angelegenheit schlagfertig in Szene zu setzen ohne dabei ins Lächerliche und Banale abzudriften. Allein schon durch die Handlung sind dem Leser einige Brüller sicher. „Die Nachhut“ ist eine Satire – nach allen Regeln der Kunst gestrickt – und ein Knaller: Vier Nazis, denen 60 Jahre Zeitgeschichte abgehen interpretieren die moderne Welt:
„Hartz Vier nennt Inge die jüngste Totalmobilmachung, die angeblich jeder fürchten muß, der sich nicht freiwillig im Westen meldet, selbst Alte und Frauen.“
„Bierflaschen, dem Etikett nach deutscher Abfüllung, und darüber, in den Putz gekratzt, mehrere kleine Kratzer. Sie sehen frisch aus, frischer jedenfalls als die Schriftzeichen der Russen. An manchen Kreuzen zeigen die Haken zwar in die falsche Richtung – ein feldtaktischer Hinweis womöglich, den wir nicht sofort entschlüsseln können – aber dafür hat jemand in einer Ecke sogar eine doppelte Sigrune hinterlassen.“
„Die Not muß groß sein seit der Besatzung. In der guten Stube stehen nur Möbel aus billigem Nadelholz.“
„Die Jungen seien allesamt im Westen, hat mir Monse gerade erklärt, und das klang, als hätte man den deutschen Osten schon komplett aufgegeben. […] Ganze Landstriche, von Vorpommern bis tief nach Mitteldeutschland hinein sollen bereits weitgehend entvölkert sein.